Nachdem sich Oberbürgermeister Manfred Wagner bei der Gedenkveranstaltung mit der Begrüßung an alle Anwesenden gewendet hatte, fasste er zusammen, was auch im Jahr 2023 die wichtigste Frage und demokratischer Konsens in der deutschen Gesellschaft sein muss: “Es bleibt immer das Fragezeichen – Wie konnte das geschehen? Und es bleibt immer das große Ausrufezeichen: Nie wieder!”

Im Anschluss sprach Staatssekretär Uwe Becker zu den Teilnehmenden. Er betonte, dass während es Nationalsozialismus aufgrund von “Boykotten, Schikanen und vielen anderer furchtbaren Maßnahmen” jüdisches Leben in Deutschland nahezu unmöglich geworden war. Dies endete letztendlich im “zivilisatorischen Bruch der Unmenschlichkeit” mit der Folge der Shoah. Dabei betonte er, dass jüdisches Leben in Deutschland wieder möglich ist und stattfindet. Dennoch ist das offenbar keine Selbstverständlichkeit, so berichtet der hessische Antisemitismusbeauftragte. Jüd*innen haben aktuell mehr Angst als denn je, insbesondere seit den erneuten Pogromen des 7. Oktober 2023. “Nie wieder” war die Lehre aus der nationalsozialistischen Geschichte. Becker betont, dass darin genau der Auftrag für die deutsche Gesellschaft liegt: “Nie wieder ist jetzt!” Mit den Massakern und Entführungen durch die Hamas, gibt es eine erneute Pogromstimmung, die Jüd*innen wahrnehmen, nicht im Jahr 1938, sondern aktuell im Jahr 2023 – in Israel, in Deutschland. Der terroristische und brutale Massenmord des 7. Oktober, so Becker, beeinträchtigt Jüd*innen in ihrer Wahrnehmung, dass Israel ein sicherer Hafen für jüdisches Leben ist, “in einer Welt in der jüdisches Leben immer wieder entrechtet und ermordet worden ist”. Gleichzeitig verursachen die Massaker und Pogrome Traumata für die Betroffenen. Neben der Benennung der Gräueltaten durch die Hamas, beschreibt Becker, dass 240 Geiseln aktuell immer noch von den Terroristen gefangen gehalten werden. Uwe Becker macht deutlich, dass der 7. Oktober somit nicht nur ein normaler Tag im Nahostkonflikt ist, sondern eine schlimme Zäsur in der Geschichte der antisemitischen Pogrome.

Auch das Sicherheitsgefühl von Jüd*innen in Deutschland wird hierdurch beeinträchtigt. Becker betont, dass die Massaker des 7. November von Israelfeinden auf deutschen Straßen gefeiert wurden und darüber hinaus Wohnungen sowie Häuser von vermeintlichen Jüd*innen mit Davidssternen gekennzeichnet werden. Was Becker hervorhebt: Das Sicherheitsgefühl von Jüd*innen in Deutschland war zuvor eingeschränkt, erreicht aber durch die Geschehnisse einen neuen Tiefpunkt. Das abschließende Plädoyer von Becker ist: Nicht leise zu sein, sondern die Stimme zu erheben. “Es dürfen nicht immer die Jüdinnen und Juden alleine sein, die jüdischen Gemeinden, die sich noch gegen den Antisemitismus auch noch wenden müssen; sie sind Ziel und Opfer all dessen. Es ist unser Auftrag. Es ist unsere Gesellschaft. Und immer dann wenn der Judenhass und der Antisemitismus besonders groß war, war der Zustand einer Gesellschaft besonders schlecht. Arbeiten wir an einer guten Gesellschaft, arbeiten wir an einem Miteinander. Auch das sind wir denen schuldig, an die wir heute mit dem Blick an den 9. November 1938 denken.”

Im Anschluss folgte der Redebeitrag von Wilhelm Philipp Kranemann, Vorstandsmitglied der DIG AG Gießen

“Sehr geehrter Herr Staatssekretär Becker,
sehr geehrter Oberbürgermeister Wagner,
sehr geehrter Herr de Donges-Amiss-Amiss,
sehr geehrter Diakon Hark,
sehr geehrter Pfarrer Grieb,
sehr geehrte Damen und Herren,

im Namen der Arbeitsgemeinschaft Gießen der Deutsch-Israelischen Gesellschaft möchte ich sie herzlich begrüßen und mich bei Ihnen für ihre Teilnahme bedanken. Ich möchte mich zudem für die Möglichkeit heute hier zu ihnen sprechen zu dürfen, bedanken.

In ganz Deutschland wurden, wie auch in Wetzlar zwischen dem 9. und dem 15. November 1938, jüdische Geschäfte geplündert, es brannten die Synagogen, Juden und Jüdinnen wurden körperlich angegriffen und misshandelt. Um der Verfolgung und dem daraus resultierenden Leid, das Juden und Jüdinnen erfahren haben, zu gedenken, haben wir uns heute hier versammelt.

Es war dies nicht der Anfang und auch nicht der Höhepunkt der Verfolgung im Nationalsozialismus, dort aber zeigte sich – wie in einem Brennglas – die Fratze des Antisemitismus in aller Deutlichkeit.

Der Antisemitismus war weder ein Phänomen, das erst mit der Entstehung und dem Aufstieg des Nationalsozialismus aufkam, noch am 8. Mai 1945, nachdem die alliierten Streitkräfte das nationalsozialistische Deutschland militärisch niedergerungen hatten, ein Ende fand. Überhaupt ist der Antisemitismus kein ausschließliches Phänomen des 20. Jahrhundert, weder begann er dort erst, noch endete er dort, weder in Deutschland noch weltweit; es änderte sich allenfalls seine Erscheinungsform.

An die Novemberpogrome zu erinnern bedeutet sich Antisemitismus auch als heutige Realität zu vergegenwärtigen und gegen ihn anzugehen, wo er auftritt – es ist das „Nie wieder“, das sich darin verdichtet.

Das „Nie wieder“ ist die raison d’être des Staates Israel. Davon kündigen zahlreiche Rettungsaktionen von Jüdinnen und Juden. So wurden nur wenige Jahre nach der Gründung des Staates Israel mit dem Unternehmen „Magischer Teppich“ zehntausende Jüdinnen und Juden aus dem Jemen nach Israel gebracht und somit vor dem Antisemitismus der jemenitischen Mehrheitsbevölkerung geschützt.

Der sogenannte Nahostkonflikt ist komplex und kompliziert. Vor einigen Jahren beobachtete ich, wie ein britisch-israelischer Freund dies einer flüchtigen Bekanntschaft auf einer Party erklären wollte. Sie wollte sich nicht abbringen lassen und hatte sich plumpe Erwiderungen parat gelegt. Danny, mein Bekannter, war in einer für ihn gewohnten, aber doch merkwürdigen Situation: in Israel wollte er nicht zum Militärdienst gehen und in Deutschland sah er sich diverse Male genötigt, Israel zu verteidigen. Wir verloren uns in den kommenden Jahren aus den Augen. Ich ging nach Gießen, er war Fotograf und tat das, was linke, israelische Künstler eben tun: er zog nach Berlin.

Vor wenigen Wochen musste ich erneut über Danny hören. Er war mit einer deutschen Freundin zu Besuch im Kibbuz, in dem seine Eltern sich kennenlernten und seine Geschwister groß wurden. Eigentlich wollte er am Abend nach Tel Aviv abreisen, aber ließ sich zu einer weiteren Übernachtung überreden. Am nächsten Morgen kam die Hamas. Danny wurde mit 34 Jahren im größten antisemitischen Massaker nach der Shoah umgebracht. Seine Schwester schrieb auf Instagram: “My baby brother, a gentle, kind and caring soul with such a bright future ahead of him. Words cannot describe the pain we are feeling.”

Sie alle kennen die bestialischen Geschehnisse, die an diesem Tag die islamischen Mörderbanden der Hamas, verübten. In ihrer Charta, die alle kennen können, die es wollen, kündigte die Hamas ihr Anliegen bereits vor Jahrzehnten an.

Und so ist es nicht verwunderlich, dass es nicht nur die klammheimliche Freude eines subtilen Antisemitismus ist, die nach dem 7. Oktober aufkam, sondern dass sich die offene unverhohlene Freude am Pogrom Bahn brach. Sie alle kennen bspw. die Bilder von Islamisten und Linksextremisten, wie sie die schrecklichen Taten des 7. Oktobers auf deutschen Straßen feierten, befürworteten oder zumindest verharmlosten.

Bei einer propalästinensischen Kundgebung am 28. Oktober, in der Nachbarstadt Gießen, sprach der Vorsitzende der Palästinensischen Gemeinde Hessen – in klassischer Täter-Opfer-Umkehr und in Relativierung der Shoah – davon, dass Netanjahu die Endlösung der Palästinenserfrage anstrebe. Ebenfalls in Gießen wurde die Wohnung eines jungen Manns, der eine Israelfahne an seinem Balkon befestigt hatte, deswegen von zwei Männern erstürmt – er wurde dabei körperlich attackiert und die Fahne entwendet; dies geschah inmitten der Innenstadt und am frühen Abend.

Israelfahnen  hängen als Zeichen der Solidarität an den Rathäusern. Wir möchten uns bei der Stadt Wetzlar bedanken, dass sie nach dem Pogrom ein Zeichen der Solidarität mit Israel setzte und die israelische Fahne am Wetzlarer Rathaus hisste. Woanders werden die Fahnen abgerissen, es wird auf sie uriniert und sie werden angezündet, und dies zum Teil unter den Augen Dutzender Passanten, die nicht einschreiten, von ein paar ganz wenigen Mutigen abgesehen. Bei diesen Mutigen möchten wir uns bedanken.

Antisemitismus muss entschlossen und entschieden begegnet werden, egal in welcher Form er sich äußert oder aus welcher politischen Ecke er entstammt. Die Antisemitinnen und Antisemiten dürfen nicht siegen, auch den Claqueuren dessen muss entschieden begegnet werden. Das oft eingeübte „Nie wieder“, das in den letzten Jahren und Jahrzehnten, am 9. November zu hören war, darf nicht folgenlos und tatenlos bleiben, denn „Nie wieder“ ist jetzt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.”

Lawrence de Donges-Amiss-Amiss, Vertreter der jüdischen Jüdische Gemeinde Gießen, hielt im Anschluss ein kurze Ansprache. Es folgten eine Psalmrezitation von Norbert Hark, Diakon der katholischen Gemeinde Wetzlar, sowie die Kranzniederlegung, Liedbeiträge von Elisabeth Hausen und Amely Stief und ein Redebeitrag von Pfarrer Wolfgang Grieb.